Kino der frühen Nachkriegsjahre in Europa: Aufbruch zu neuen Ufern

Kino der frühen Nachkriegsjahre in Europa: Aufbruch zu neuen Ufern
Kino der frühen Nachkriegsjahre in Europa: Aufbruch zu neuen Ufern
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Ufa-Konzern in Deutschland als Symbol für die Verbindung von wirtschaftlichem Monopol mit nationalsozialistischer Diktatur. Der Wiederaufbau der Filmindustrie durch die alliierten Besatzungsmächte begann deshalb dezentral: mit der Vergabe von Verleih- und Produktionslizenzen an einzelne Personen oder neu gegründete, kleine Firmen. Vor allem die Amerikaner verfolgten auch ein propagandistisch-pädagogisches Interesse: Mithilfe von Filmen sollten die Deutschen zur Demokratie erzogen werden. Filmschaffende, die bereits in der nationalsozialistischen Filmwirtschaft beschäftigt gewesen waren, sollten vom Wiederaufbau der deutschen Filmproduktion zunächst ausgeschlossen werden. Dennoch kehrten schon bald viele von ihnen auf ihre Positionen zurück. Trotz dieser personellen Kontinuität bedeutete das Kriegsende für das deutsche Kino zunächst einen thematischen Neuanfang: Die Filme der frühen Nachkriegsjahre widmeten sich dem materiellen, geistigen und seelischen Zusammenbruch in Deutschland.
 
So genannte »Trümmerfilme« wie »Film ohne Titel« (1947/48) von Rudolf Jugert oder »Liebe 47« (1948/49) von Wolfgang Liebeneiner nutzten die Ruinen der zerstörten Städte als Kulissen, um die Seelenzustände ihrer Figuren zu spiegeln. Produktionen wie »In jenen Tagen« (1946/47) von Helmut Käutner, die in der nationalsozialistischen Vergangenheit spielen, waren selten und schreckten vor einer radikalen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit zurück. Die geistigen und emotionalen Bedürfnisse des zeitgenössischen Publikums verlangten nach einer Anweisung zum (Weiter-)Leben, nicht nach einer kritisch-realistischen Bestandsaufnahme.
 
Bereits im August 1946, noch vor den Produktionsfirmen in den westlichen Sektoren, wurde die DEFA (Deutsche Filmaktiengesellschaft), die einzige Filmgesellschaft der späteren DDR, mit sowjetischer Lizenz gegründet. Das zentrale Thema der ersten DEFA-Produktionen war der Antifaschismus, mit dem sich Filme wie »Die Mörder sind unter uns« (1946) von Wolfgang Staudte - die erste deutsche Nachkriegsproduktion -, »Ehe im Schatten« (1947) von Kurt Maetzig, »Affaire Blum« (1948) von Erich Engel und »Rotation« (1949) von Wolfgang Staudte auseinander setzten. Auch sie nutzten die Trümmerlandschaften der ausgebombten Städte als Kulissen für Geschichten über individuelle und kollektive Schuld während der Zeit des Nationalsozialismus. In stärkerem Maße als die in den Westsektoren gedrehten Filme bezeugen die frühen DEFA-Produktionen einen Bruch mit der Vergangenheit und den Willen zu einem Neubeginn, der die moralische und künstlerische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht scheute.
 
In vielen Ländern setzte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Bewegung hin zu einem filmischen Realismus ein. Die bedeutendste dieser Strömungen war der italienische Neorealismus, der sich durch die Aktualität der Themen und den Einsatz von Laiendarstellern auszeichnete. Außerdem wurden neorealistische Filme an Originalschauplätzen gedreht. Bereits während der faschistischen Herrschaft waren erste Filme entstanden, die inhaltlich und stilistisch Gegenentwürfe zu den sterilen Gesellschaftsdramen bildeten, die in den späten Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren die italienische Filmproduktion dominiert hatten. Seine Blütezeit erlebte der Neorealismus jedoch erst mit dem Ende der faschistischen Diktatur; nun beschäftigten sich die Filme mit der italienischen Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit: mit dem Zweiten Weltkrieg in »Rom, offene Stadt« (1944/45) von Roberto Rossellini, dem Kriegsende und dem Einmarsch der Allierten in »Glorreiche Tage« (1945) von Giuseppe De Santis und »Paisà« (1946) von Roberto Rossellini. Sie zeigten das soziale Elend - »Fahrraddiebe« (1948) von Vittorio De Sica - und die unwürdigen Arbeitsverhältnisse - »Die Erde bebt« (1948) von Luchino Visconti, »Bitterer Reis« (1949) von Giuseppe De Santis - im zeitgenössischen Italien.
 
Statt die Protagonisten durch Nah- und Großaufnahmen zu individualisieren, verankerten totale und halbtotale Einstellungen die Figuren in ihrer räumlichen Umgebung und ihrem sozialen Milieu. Die neorealistischen Filme interessierten sich für die einfachen Leute und ihren Alltag, propagierten humanistische Ideale. Anstelle der linearen trat eine episodische Erzählstruktur, die die Gleichwertigkeit von Menschen und Dingen und das Eigenleben der Schauplätze betonte. Die Ära des Neorealismus endete Anfang der Fünfzigerjahre. Das neorealistische Kino war immer auch ein Kino der Opposition gewesen; mit der dauerhaften Herrschaft der Christdemokraten in Italien zerbröckelte jedoch die antifaschistische Front, die eine der ideologischen Quellen der Bewegung war. An die Stelle von Realismus trat fortan Lokalkolorit. Stars wie Sophia Loren, Gina Lollobrigida, Anna Magnani und der Komiker Totò gaben dem italienischen Kino ein neues Gesicht, und aus den römischen Produktionsstätten Cinecittà wurde ein Hollywood am Tiber.
 
Dr. Daniela Sannwald und Robert Müller
 
 
Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.
 
Geschichte des deutschen Films, herausgegeben von Wolfgang Jacobsen u. a. Stuttgart u. a. 1993.
 
Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.
 Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. Taschenbuchausgabe München 1995.
 
Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video, begründet von Klaus Brüne. Bearbeitet von Horst Peter Koll. 10 Bände. Neuausgabe Reinbek 1995.
 Reisz, Karel und Millar, Gavin: Geschichte und Technik der Filmmontage. Aus dem Englischen. München1988.
 
Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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